Solidarität gegen die Welle: Umgang mit organisierten Hass-Kampagnen
Ein Leitfaden für politische Aktivisten, NGOs, Vereine und selbstorganisierte Gruppen
Inhalt
Das ist kein Streit – das ist ein Angriff
Wenn eine Welle von Hass über soziale Medien hereinbricht, fühlt es sich an wie ein Sturm. Hunderte Kommentare. Private Nachrichten voller Drohungen. Das Telefon vibriert ohne Pause. Der Puls rast.
Aber machen wir eines klar: Das hier ist keine politische Debatte. Das ist auch kein gewöhnlicher Streit im Netz. Organisierte Hass-Kampagnen sind eine bewusste Taktik. Ihr Ziel ist nicht der Dialog, sondern das Schweigen. Sie zielen darauf ab, linke Stimmen einzuschüchtern, zu isolieren und mundtot zu machen.
Dieser Leitfaden ist ein Werkzeug zur digitalen Selbstverteidigung. Er ist ein Akt kollektiver Solidarität. Und er ist die Anerkennung, dass die Erfahrungen eurer Gruppe real sind und ernst genommen werden müssen.
Analyse: Was passiert hier eigentlich?
Bevor ihr handelt, müsst ihr verstehen. Nur wer die Mechanismen kennt, kann effektiv reagieren.
Hass-Kampagne oder gewöhnliches Trolling?
Es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen einzelnen Störern und einer koordinierten Kampagne. Trolling ist meist unorganisiert, spontan und individuell. Eine Hass-Kampagne dagegen folgt einem Muster: Sie ist geplant, koordiniert und hat eine klare Absicht.
Erkennungsmerkmale einer organisierten Kampagne:
Plötzlicher, massiver Anstieg von negativen Kommentaren und Nachrichten
Ähnliche Formulierungen, identische Hashtags oder wiederkehrende Narrative
Accounts, die kürzlich erstellt wurden oder wenig authentische Aktivität zeigen
Koordination über verschiedene Plattformen hinweg
Zeitliche Muster, die auf abgesprochenes Vorgehen hindeuten
Die wahren Ziele hinter dem Hass
Hass-Kampagnen verfolgen mehrere Ziele gleichzeitig:
Einschüchterung: Eure Gruppe soll Angst bekommen und sich zurückziehen.
Demobilisierung: Nicht nur die direkt Angegriffenen, sondern auch Unterstützer im Umfeld sollen abgeschreckt werden.
Chilling Effect: Ein Klima der Angst entsteht. Andere überlegen es sich zweimal, ob sie sich noch öffentlich äußern.
Reputationsschädigung: Durch die Verbreitung von Falschinformationen und Verleumdungen soll euer Ansehen zerstört werden.
Erschöpfung: Die psychische Gesundheit wird systematisch angegriffen. Burnout wird bewusst in Kauf genommen.
Die Anatomie eines Angriffs
Hass-Kampagnen nutzen verschiedene Taktiken, oft in Kombination:
Dogpiling: Massenhafte, koordinierte Angriffe von vielen Accounts gleichzeitig. Die Betroffenen werden überwältigt.
Doxing: Private Informationen wie Adressen, Telefonnummern oder Arbeitsplätze werden veröffentlicht, um Bedrohungen greifbarer zu machen.
Desinformation: Lügen, manipulierte Screenshots oder aus dem Kontext gerissene Zitate werden verbreitet.
Meldemissbrauch: Eure Accounts werden massenhaft gemeldet, um Sperrungen zu provozieren.
Brigading: Die Kampagne wird über externe Kanäle wie Imageboards, private Gruppen oder Messenger-Dienste koordiniert.
Die ersten 72 Stunden: Akut- und Nothilfe
Die ersten Stunden und Tage entscheiden. Schnelles und koordiniertes Handeln kann den Schaden begrenzen und eure Gruppe schützen.
Für die betroffene Person: Erste Hilfe für die Psyche
Raus aus der Schusslinie
Die Sicherheit und Gesundheit der betroffenen Person hat Priorität. Sofort.
Alle Benachrichtigungen ausschalten. Jede einzelne.
Accounts temporär auf privat stellen oder vorübergehend deaktivieren.
Apps vom Startbildschirm löschen, wenn nötig.
Die betroffene Person muss das jetzt nicht sehen. Sie muss sich dem nicht aussetzen.
Unterstützung aktivieren
Niemand muss das alleine durchstehen.
Benennt ein kleines Support-Team aus der Gruppe.
Dieses Team übernimmt die Kommunikation und filtert Inhalte.
Gebt dem Team Zugang zu den betroffenen Accounts oder bittet sie, eure öffentlichen Kanäle im Auge zu behalten.
Psychische Sicherheit priorisieren
Erkennt gemeinsam an, dass das, was gerade passiert, ein Angriff ist. Keine normale Auseinandersetzung. Alle emotionalen Reaktionen sind absolut legitim und nachvollziehbar.
Es ist keine Schwäche, Hilfe zu suchen. Organisationen wie HateAid bieten spezialisierte Unterstützung für Betroffene von digitaler Gewalt. Nutzt diese Angebote als Gruppe.
Für die gesamte Gruppe: Das Schutzschild errichten
Sichern und dokumentieren
Sichert die Accounts der betroffenen Personen: Passwörter ändern, Zwei-Faktor-Authentifizierung aktivieren.
Sammelt systematisch Beweise: Screenshots mit Datum und Uhrzeit, URLs, Accountnamen.
Nutzt Tools zur Archivierung, bevor Inhalte gelöscht werden.
Dokumentiert auch den zeitlichen Ablauf und mögliche Koordinationsmuster.
Interne Kommunikation etablieren
Richtet einen sicheren, internen Kommunikationskanal ein. Signal oder andere verschlüsselte Messenger eignen sich dafür.
Verbreitet eine klare, einheitliche Botschaft in eurer Community:
„Wir werden gerade angegriffen. Wir stehen solidarisch zusammen. Hier ist, wie wir jetzt gemeinsam handeln.“
Informiert über die Situation, ohne Panik zu verbreiten. Gebt konkrete Handlungsanweisungen.
Öffentliches Schweigen – zunächst
Reagiert nicht sofort und unkoordiniert in den sozialen Medien. Jede unüberlegte Reaktion füttert die Kampagne und gibt den Angreifern neue Angriffsflächen.
Nehmt euch als Gruppe Zeit, intern zu sortieren, eine Strategie zu entwickeln und dann geschlossen aufzutreten.
Vom Reagieren zum Agieren: Unsere Narrative, unsere Regeln
Nach der Akutphase geht es darum, die Kontrolle zurückzugewinnen. Ihr als Gruppe entscheidet, wie die Geschichte weitergeht.
Die strategische Entscheidung: Schweigen oder sprechen?
Es gibt keine universell richtige Antwort. Beide Strategien können funktionieren, je nach Kontext. Trefft diese Entscheidung gemeinsam.
Für öffentliche Stellungnahmen spricht:
Die Kampagne hat bereits große Reichweite und öffentliche Aufmerksamkeit
Falschinformationen verbreiten sich schnell und können dauerhaften Schaden anrichten
Eure Community braucht Orientierung und ein Signal
Ihr habt die Ressourcen für eine koordinierte, professionelle Kommunikation
Für strategisches Schweigen spricht:
Die Kampagne ist noch klein und könnte durch Aufmerksamkeit wachsen
Die Angreifer suchen gezielt nach Reaktionen, um diese zu instrumentalisieren
Eure Ressourcen sind begrenzt und sollten geschont werden
Der Angriff läuft ins Leere, wenn er keine Resonanz findet
Gegen-Narrative entwickeln: Erzählt eure Geschichte
Wenn ihr euch als Gruppe für eine öffentliche Reaktion entscheidet, dann mit eurer eigenen Geschichte. Nicht mit ihrer. Widerlegt nicht die Lügen. Jede Wiederholung – auch zur Richtigstellung – verstärkt ihre Botschaft. Lasst euch nicht in ihre Framings zwingen. Setzt stattdessen gemeinsam ein starkes, positives und solidarisches Statement:
Fokussiert auf eure Werte und eure Arbeit
Zeigt eure Community und die Menschen, für die ihr kämpft
Macht die Mechanismen des Angriffs sichtbar, ohne ins Detail zu gehen
Endet mit einem klaren Bekenntnis: Ihr macht weiter
Beispiel:
„In den letzten Tagen wurden wir als Gruppe mit einer Welle von Hass und Falschinformationen überzogen. Das ist ein bekanntes Muster, um politische Arbeit zu sabotieren. Wir lassen uns nicht einschüchtern. Unsere Arbeit für [euer Thema] geht weiter, und wir tun das gemeinsam mit hunderten Menschen, die uns unterstützen.“
Plattformen strategisch nutzen
Algorithmen sind keine neutralen Werkzeuge. Aber ihr könnt sie als Gruppe für eure Zwecke einsetzen.
Positive Signale verstärken:
Ruft eure Community zu konstruktivem Engagement auf
Likes, unterstützende Kommentare und Shares von positiven Inhalten erhöhen deren Sichtbarkeit
Erstellt gemeinsam Content, der eure Botschaft transportiert und geteilt werden kann
Hass-Kommentare richtig behandeln:
Meldet systematisch Inhalte, die gegen Community-Standards verstoßen
Löscht oder verbergt sie, wo ihr die Kontrolle habt
Diskutiert nicht öffentlich mit Trollen – das ist vergeudete Energie
Das Immunsystem der Bewegung stärken: Kollektive Fürsorge als politische Praxis
Nachhaltigkeit ist der Schlüssel. Hass zermürbt. Ihr müsst als Gruppe Strukturen schaffen, die euch tragen und stark machen.
Burnout ist kein individuelles Versagen
Lasst uns das klarstellen: Wenn jemand in eurer Gruppe ausbrennt, hat diese Person nicht versagt. Sie ist nicht zu schwach oder zu sensibel.
Burnout ist das Ergebnis permanenter emotionaler Arbeit unter Bedrohung. Es ist ein strukturelles Problem, keine persönliche Schwäche. Die Verantwortung liegt beim System, das diesen Hass ermöglicht und befeuert, nicht bei einzelnen Menschen in eurer Gruppe.
Wer unter Dauerbeschuss steht, wird erschöpft. Das ist eine normale Reaktion auf eine abnormale Situation.
Community-Care-Protokolle entwickeln
Wartet nicht auf die nächste Krise. Bereitet euch als Gruppe vor, solange ihr noch Kraft und Klarheit habt.
Erstellt gemeinsam feste Vereinbarungen für den Krisenfall:
Wer übernimmt welche Aufgabe? Benennt konkrete Rollen: Dokumentation, externe Kommunikation, interne Betreuung, technische Sicherheit.
Wie organisiert ihr Pausen? Niemand kann 72 Stunden durcharbeiten. Plant Schichten und Vertretungen.
Wie verteilt ihr die emotionale Last? Rotiert Aufgaben, die besonders belastend sind.
Wer hat welche Skills? Mappt die Kompetenzen in eurer Gruppe: Wer kennt sich mit IT-Sicherheit aus? Wer hat Erfahrung mit Öffentlichkeitsarbeit? Wer ist gut darin, Menschen zu beruhigen?
Rituale der Fürsorge etablieren:
Regelmäßige Check-ins: Wie geht es allen wirklich?
Gemeinsame Auszeiten: Plant bewusst Momente ohne politische Arbeit
Erfolge feiern: Kleine und große Siege verdienen Anerkennung
Wissen teilen, Resilienz aufbauen
Jede Krise ist auch eine Lernchance. Nutzt sie, um als Gruppe zu wachsen.
Organisiert gemeinsam interne Schulungen zu:
Digitaler Sicherheit: Sichere Passwörter, verschlüsselte Kommunikation, Schutz vor Doxing
Deeskalation: Wie reagiert ihr auf Angriffe, ohne die Situation zu verschärfen?
Psychischer Erster Hilfe: Wie unterstützt ihr Menschen in eurer Gruppe in akuten Krisensituationen?
Medienarbeit: Wie formuliert ihr wirksame Statements?
Vernetzt euch:
Ihr seid nicht die erste Gruppe, die das durchmacht. Lernt von anderen Gruppen, tauscht Erfahrungen aus, baut Netzwerke auf.
Dokumentiert eure eigenen Erfahrungen als Gruppe. Was hat funktioniert? Was würdet ihr beim nächsten Mal anders machen?
Ihr seid nicht allein – und wir sind mehr
Die wichtigste Botschaft zum Schluss: Der beste Schutz vor organisierten Hass-Kampagnen ist eine gut organisierte, solidarische und fürsorgliche Gemeinschaft.
Einzelne können gebrochen werden. Aber eine Gruppe, die auf gegenseitiger Unterstützung aufbaut, ist schwer zu erschüttern.
Jede Gruppe, die weiterhin ihre Stimme erhebt, ist ein Akt des Widerstands. Jede Gruppe, die sich vorbereitet und füreinander da ist, wird stärker. Jedes Mal, wenn ihr euch nicht einschüchtern lasst, gewinnt ihr.
Was ihr als Gruppe jetzt tun könnt
Heute:
Sprecht über diesen Leitfaden
Diskutiert, ob ihr ein Notfall-Protokoll braucht
Benennt erste Verantwortlichkeiten
Diese Woche:
Erstellt gemeinsam eine Checkliste für Krisenfälle
Sammelt wichtige Kontakte: Beratungsstellen, Anwälte, befreundete Organisationen
Sichert eure Accounts: Passwörter, Zwei-Faktor-Authentifizierung, Backup-Optionen
Langfristig:
Plant eine Schulung zu digitaler Sicherheit für eure gesamte Gruppe
Etabliert regelmäßige Check-ins
Baut ein Netzwerk mit anderen Organisationen auf
Weiterführende Unterstützung
HateAid: Spezialisierte Beratung und Unterstützung für Betroffene digitaler Gewalt
Digitale Ersthelfer: Schnelle Hilfe bei Online-Angriffen
Eure lokalen Beratungsstellen: Viele Städte haben Anlaufstellen für Betroffene von Hass und Diskriminierung
Wir sind mehr. Und gemeinsam sind wir stärker als jeder Shitstorm.
Dieser Leitfaden ist ein Living Document. Eure Erfahrungen als Gruppen, euer Feedback und eure Ergänzungen sind willkommen.